Als Eltern können Sie nur mit Gelassenheit erziehen, wenn Sie verstehen, warum Ihr Kind in bestimmten Situationen besonders reagiert.
Entwicklungsschritte
In den ersten zwei Jahren hat das Baby Zeit, sich selbst zu entdecken, motorische Fähigkeiten zu entwickeln, neugierig sein Umfeld zu erkunden und viele Reifungsschritte in der Wahrnehmung zu durchlaufen, um dann schon bald selbstständiger und weitgehend autonom seinen Alltag zu gestalten.
Im Alter von zwei Jahren kann das Kind endlich zu sich selbst „ICH“ sagen.
Erst jetzt weiß es, dass es eine eigenständige Persönlichkeit ist, und kein Anhängsel von Mama oder Papa. Jetzt spürt es, dass es seinen Alltag mitbestimmen kann, und möchte mit seinem Willen die Welt verändern. Der enorme Zuwachs von intellektuellen, sprachlichen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten im Alter zwischen zwei und drei Jahren setzt voraus, dass es jetzt Einfluss auf sein Umfeld nehmen kann.
Das Kind ist in dieser Phase kein rücksichtsvolles Wesen.
Erst einmal gehört alles ihm, das Wort „teilen“ wird noch nicht verstanden, und seine egozentrische Sichtweise lässt keinen Weitblick zu.
„Ich bin schon groß!“ – „Das kann ich allein!“
Wie gut kann ich mich an diese Phase erinnern. Sobald das Wort „allein“ aus dem Mund meiner Tochter kam, wusste ich, dass sich ab jetzt sämtliche Aktivitäten, die wir bislang gut und routiniert zu zweit bewältigt hatten, nach hinten verzögern werden. Dabei ist es ja keineswegs einfach und immerzu erfüllend für Kleinkinder, zu beweisen, dass sie schon „groß“ sind.
Ich konnte mich sehr gut in diese Phase einfühlen. Betrachten wir es einmal ganz nüchtern, so muss es doch für das Kleinkind enorm anstrengend sein, alles allein ausführen zu wollen, und dadurch dauerhaft an seine Grenzen zu stoßen. Täglich, stündlich, minütlich erlebt das Kind, dass es sein Vorhaben nicht allein ausführen kann, da ihm noch Voraussetzungen und Fertigkeiten fehlen oder sein Vorhaben verboten wird. Keine Frage: In dieser Situation würden auch wir häufig wütend werden.
Genau das steckt hinter einer Trotzphase. Ich will alles schon allein können, weil ich groß bin, komme aber an meine Grenzen und muss merken, dass ich doch noch nicht so groß bin, wie ich es mir wünsche. Die Trotzphase kann bis zum vierten Lebensjahr dauern, da die zwei wichtigen Eigenschaften Ausdauer und Geduld jetzt vom Kind erworben werden müssen, die von jedem Kind nach individuellen Entwicklungsschritten unterschiedlich erreicht werden. Zu lernen, dass unsere Wünsche nicht alle sofort und einige überhaupt nicht in Erfüllung gehen werden, ist eine immense Aufgabe.
Der Trotz
Der Trotz ist für das Kind nicht steuerbar. Er kommt plötzlich, gewaltig, ist unberechenbar und betrifft den ganzen Körper des Kindes. Das Kind steht sozusagen neben sich und kann den Trotz nicht unterbinden. Der Trotz steigt von der Fußspitze nach oben, umfasst den ganzen Körper und steigt ihm bis zum Kopf.
Im Trotz nimmt das Kind sein Umfeld nicht wahr. Wie lange es trotzt und wie oft ist für Eltern nicht steuerbar.
Beispiel: Ihr Kind möchte heute morgen allein seine Schuhe anziehen. Es gelingt ihm nicht und es bekommt einen Trotzanfall. Am nächsten Tag werden Sie versuchen, diese Situation zu entspannen. Sie werden die Schuhe so hinstellen und öffnen, dass Ihr Kind selbstständig hineinschlüpfen kann und hoffen, dass Sie heute ohne Trotzanfall aus dem Haus kommen. Doch es kommt trotz Ihrer guten Vorbereitungen anders: Denn an diesem Morgen kommt Ihr Kind nicht selbstständig in seine Jacke hinein und der Trotz bricht trotzdem aus.
Sie sehen an diesem Beispiel, dass Sie als Eltern die Situation noch so gut vorbereiten können, aber der Trotzanfall Ihres Kindes dennoch nicht planbar ist. Dies ist eine wichtige Information, da Sie sich dadurch von dem enormen Druck befreien können, jede Situation in dieser Phase genau zu planen, um diesem Trotz auszuweichen. Stellen Sie sich morgens schon auf mindestens zehn Trotzanfälle ein. Spielen Sie mit Ihrer Erwartungshaltung und freuen Sie sich, wenn Sie den Tag dann – wider Erwarten – doch mit nur drei Trotzanfällen überstanden haben.
Müdigkeit des Kindes, Krankheit oder die jeweilige Umgebung (sind Sie gerade zu Hause oder im Supermarkt?) können Trotzanfälle leichter auslösen. Sollten Sie hier an Ihrem Kind ein Muster erkennen, können Sie selbstverständlich liebevoll versuchen, Ihr Kind zu lenken.
Die Eigen- und Selbstständigkeit
Das Kind, das nach Eigen- und Selbstständigkeit schreit, können wir unterstützen, indem wir ihm viele Möglichkeiten schaffen, selbst etwas zu tun. Beziehen Sie Ihr Kind in Ihren Alltag ein. Auch ein zweijähriges Kind kann einen Teller zum Tisch tragen, die Wäsche helfen aufzuhängen, die Spülmaschine mit ausräumen, spülen usw.
Binden Sie Ihr Kind so viel wie möglich in Ihren Alltag ein und geben Sie Ihm das Gefühl, mit Ihnen wichtige Dinge zu tun.
Auch gezielte Fragen vermitteln dem Kind das Gefühl, Entscheidungen mittragen zu dürfen, z.B.: „Du entscheidest heute, ob wir die blaue oder die rote Zahnbürste nehmen.“, „Du darfst bestimmen, ob wir in einer oder in drei Minuten zum Zähneputzen gehen!“ usw.
Seien Sie erfinderisch und unterstützen Sie Ihr Kind in seiner Selbstständigkeit.
Umgang mit dem Trotz bzw. der Wut
Im Trotz gibt es klare Regeln, die das Kind lernen und beachten muss. Je nach Temperament des Kindes fällt die Wut unterschiedlich aus. Es gibt Kinder, die sich auf den Boden werfen, laut brüllen und strampeln. Genauso gibt es Kinder, die nur laut brüllen und auf den Boden stampfen und sich nach kurzer Zeit wieder beruhigen. Wie Ihr Kind seine Wut ausdrückt, werden Sie kennen lernen. In meinen Elternseminaren unterscheide ich die Kinder in diejenigen, die immer alles geben, um ihren Emotionen Ausdruck zu verleihen, und in die sehr Feinfühligen, bei denen der Trotz kaum sichtbar wird.
Wichtig ist, dass es drei entscheidende Regeln gibt, die eingehalten werden müssen:
- Du darfst dich selbst nicht verletzen.
- Du darfst andere nicht verletzen.
- Du darfst keine Gegenstände beschädigen.
Diese Regeln müssen vom Kind eingehalten werden.
Probieren Sie aus, ob Ihr Kind in dieser Phase gehalten werden möchte. Viele Kinder wehren Berührungen ab, und dies ist von den Erwachsenen zu akzeptieren. Sorgen Sie dafür, dass sich Ihr Kind nicht verletzen kann. Warten Sie geduldig, bis der Anfall vorüber ist und schauen Sie dann, ob Ihr Kind Trost erfahren möchte. Ihr Kind darf wütend sein, es darf dieses große Gefühl zeigen, da es sich und seine Gefühle erst kennenlernen muss. Verbieten wir unserem Kind diese lauten Emotionen und erlauben ihm stattdessen nur nett, freundlich und gutgelaunt zu sein, berauben wir ihm den Kontakt zu sich selbst. Eltern haben die Aufgabe, ihr Kind auch zu lieben, wenn es wütend ist. Strafen Sie Ihr Kind im Anschluss an den Trotz nicht auch noch mit Liebesentzug, indem Sie es in sein Zimmer schicken. Das Kind kann den Trotz nicht steuern, er überfällt ihn und es braucht danach Trost, um wieder zu sich selbst zu finden. Begleiten Sie Ihr Kind mit den Worten:
„Dieser Trotz war ganz schön anstrengend. Jetzt hast du dich wieder so geärgert, weil du deine Schuhe nicht allein anziehen konntest. Soll ich dich einmal umarmen und darf ich dir jetzt helfen?“
Nach der Wut mit seinem Kind zu schimpfen, wäre jetzt der falsche Weg. Wie ich schon in vielen Berichten erwähnt habe, haben Eltern die Aufgabe, das Kind mit seinen Gefühlen und der Situation zu spiegeln. Somit helfen Sie Ihrem Kind mit den gewaltigen Gefühlen umzugehen, und mit dem Erwerb der Sprache, dieses Gefühl immer mehr verbal auszudrücken.
Ein zehn Jahre altes Kind, sollte sich nicht mehr vor Wut auf den Boden werfen, sondern verbal seinen Unmut ausdrücken.
Viel Geduld und Gelassenheit!