Der lange Weg zur Selbständigkeit Teil 2: „Ich will mich auseinandersetzen!“

Der lange Weg zur Selbständigkeit Teil 2: „Ich will mich auseinandersetzen!“

Seinen Entwicklungsweg geht das Kind nicht nur brav, angepasst, fröhlich, neugierig und liebevoll, sondern manchmal auch fordernd, zerstörend, voller Wut und voller Zorn.

Der Weg zur Selbständigkeit führt immer auch über den Weg der eigenen Gefühle, und damit über das Kennenlernen der eigenen Grenzen.

Im Alter bis 6 Jahren ist dies noch ausgeprägter, aber auch in der Grundschulzeit sind nicht alle Kinder in der Lage, ihre Impulse kontrolliert zu steuern.

Diese mächtigen Gefühle entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit anderen.

Gerade Jungen brauchen sehr die körperliche Auseinandersetzung. Ein Junge braucht einen Freund, mit dem er raufen und kämpfen kann, mit dem es richtig zur Sache geht und vielleicht auch mal die Tränen fließen. Nach dem Streit ist er immer noch sein bester Freund.

Im Streit geht es nicht darum, wer recht und wer unrecht hat, sondern eigentlich geht es um das Ausprobieren, wer der Stärkere ist, was man selbst möchte und wie man die eigene Meinung durchsetzen kann. Gerade die körperliche Auseinandersetzung, das Sich-Spüren und Seine-eigenen-Grenzen-Kennenlernen sind für die Selbständigkeit von großer Bedeutung.

Leider sind Gefühle wie Wut und Zorn bei vielen Eltern durch unsere Gesellschaft negativ abgespeichert. Wir setzen sie mit Schwäche gleich, indem wir sagen: „Der hat sich nicht im Griff!“ oder „Der verliert leicht die Kontrolle über seine Gefühle!“

Genau dies trifft jedoch nur auf die Menschen zu, die nicht als Kind gelernt haben, mit diesen Gefühlen umzugehen.

Die Wut steht als Erstes und dieses Gefühl darf sein, hat seine Berechtigung und gehört zu uns Menschen dazu. Eltern müssen Ihren Kindern beibringen, was sie mit diesem Gefühl tun dürfen.

Was darf man, wenn man wütend ist? Schreien, laut aufstampfen, die Türen knallen, irgendwo dagegen boxen? Was tun Sie, wenn Sie wütend sind? Eltern sind schließlich Vorbilder. Wie verhalten Sie sich, wenn die Wut in Ihnen hochsteigt? Schlucken Sie diese herunter, treten Sie gegen die Tür, schreien Sie Ihr Gegenüber an?

Auch im Umgang mit Gefühlen – positiven wie negativen – sind wir Vorbild!

Besprechen Sie mit Ihrem Kind, wie es mit seiner Wut umgehen kann. Ein Boxsack in jeder Familie wäre eine gute Möglichkeit, um allen Familienmitgliedern eine Möglichkeit zu geben, Ihre Wut loszuwerden. Doch auch in der Auseinandersetzung mit anderen darf Wut geäußert werden. Die Wut hilft uns, Konflikte zu bewältigen, unsere Grenzen aufzuzeigen und dadurch Situationen zu verändern. Wichtig ist immer, dass sie nicht andere verletzt oder wir uns selbst, sondern verbal, angemessen ausgedrückt wird.

Schwierig wird es insbesondere für diejenigen Kinder, deren Eltern nach vollkommener Harmonie und Frieden in der Familie streben.

Aus vielen erziehungsberatenden Gesprächen kenne ich Familien, die meine Praxis aufsuchen, weil Ihr Kind ein aggressives Verhalten zeigt. Dies kann unterschiedliche Gründe haben und muss immer individuell betrachtet werden. Bei manchen Familien ist aber der große Wunsch nach Harmonie das Thema.

Doch sieht so Erziehung aus: Alle sind nur nett zueinander, keiner äußert ein böses Wort, alles wird harmonisch besprochen und das Kind ist sofort einsichtig? Das Kind steckt immerhin noch mitten in der Entwicklung und Reifung! Es ist noch nicht fertig. Mit 20 Jahren können Sie davon ausgehen, dass Sie es geschafft haben.

Kinder wollen in die Auseinandersetzung. Gefühle wie Wut, Zorn, Enttäuschung, Verletzung, Demütigung und Verzweiflung machen etwas mit mir. Sie lösen etwas in mir aus, setzen eine Energie frei, die gelebt werden will. Diese Energie ist die Energie des Kindes, das sich darüber äußert, wahrgenommen werden will und sich selbst darüber spürt.

Lernt das Kind, das es mit diesen gewaltigen Gefühlen nicht wahrgenommen wird, fordert es entweder die Eltern immer stärker heraus oder zieht sich in sich zurück. Beides ist nicht gesund!

Kinder haben ein feines Gespür für ihre Eltern: Sie merken, welche Werte und Verhaltensmuster Eltern wichtig sind. Sie passen sich an und bemühen sich so zu sein, um sich die meiste Liebe zu sichern.

Aber wollen wir das als Eltern? Angepasste Kinder, die sich ihrer selbst nicht bewusst wurden, die andern nur gefallen wollen, die keine eigene Meinung haben, die nicht selbst wissen, was gut für sie ist?

Helfen Sie Ihrem Kind im Umgang mit diesen gewaltigen Gefühlen! Akzeptieren Sie seine Gefühle – auch die negativen. Dann setzen Sie ganz klar Grenzen. Geben Sie klare Ansagen, gehen Sie in die Auseinandersetzung, zeigen Sie Ihre eigenen Gefühle, und vor allem: Zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie es auch lieben, wenn sich diese Gefühle äußern. Es ist nicht ein Zeichen von Schwäche, Wut und Zorn zu haben, sondern ein Zeichen von Stärke für den, der sich darüber angemessen ausdrücken kann.

Bleiben Sie bei Ihrem Kind und lassen Sie es nicht allein!